BVerfG, Beschluss vom 21.09.2020, 1 BvR 528/19 (Minderjährigenverfassungsbeschwerde)

Wann und wie können Minderjährige eine Verfassungsbeschwerde erheben? Dazu haben sich die Verfassungsrichter bisher nur spärlich geäußert.
Wann und wie können Minderjährige eine Verfassungsbeschwerde erheben? Dazu haben sich die Verfassungsrichter bisher nur spärlich geäußert.
Seit über 70 Jahren gibt es mittlerweile das Rechtsinstrument der Verfassungsbeschwerde. Trotzdem sind manche grundlegende Fragen, die sich eigentlich immer wieder stellen sollten, bis heute nicht oder nur in Ansätzen geklärt. Dies liegt häufig daran, dass das Bundesverfassungsgericht ein wahrer Meister darin ist, immer nur das zu sagen, was für seine Entscheidung unbedingt notwendig ist. Ist es möglich, das Urteil so zu konstruieren, dass es auf eine bislang umstrittene oder nicht endgültig entschiedene Frage nicht ankommt, lassen die Richter die Frage oftmals ausdrücklich offen.

Eine solche weitgehend offen gelassene Frage war (und teilweise ist) diejenige, ob und wie Minderjährige eine Verfassungsbeschwerde erheben bzw. einen Rechtsanwalt dafür beauftragen können.

Grundrechte gelten auch für Minderjährige

Nicht ernsthaft bestritten wird, dass die Grundrechte auch für Kinder und Jugendliche gelten. Und sie können diese Grundrechte auch mittels der Verfassungsbeschwerde durchsetzen. Unklar sind jedoch die prozessualen Wege zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde vor Erreichen der Volljährigkeit, insbesondere ob dies ab einem gewissen Alter selbst möglich ist (teilweise auch unscharf als „Grundrechtsmündigkeit“ bezeichnet, wobei das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff nicht benutzt) und ob es ansonsten die Eltern oder andere Vertreter dafür braucht.

Im Jahr 1986 hatte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals ausführlicher (aber immer noch sehr auf den Einzelfall konzentriert) zu dieser Frage geäußert. In Anknüpfung daran hat das Gericht dann in der hier besprochenen Entscheidung im Jahr 2020 etwas präzisere und vollständigere Maßstäbe aufgestellt. Diese beziehen sich in den Details vor allem auf familienrechtliche Verfahren, sind in ihren allgemeinen Aussagen aber auch auf andere Verfassungsbeschwerden anwendbar.

Viele Ausnahmen und Unterausnahmen

Die Rechtslage kann man nun ungefähr folgendermaßen zusammenfassen:

  • Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthält keine Regelung über die Verfahrensfähigkeit. Unzweifelhaft ist, dass Volljährige eine Verfassungsbeschwerden erheben können. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass Minderjährige eine Verfassungsbeschwerde in eigener Sache erheben, indem sie bspw. einen Rechtsanwalt damit beauftragen.
  • Wenn es im jeweiligen Fachverfahren Altersgrenzen für die selbständige Wahrnehmung von Rechten gibt (im Familienverfahren bspw. 14 Jahre, § 167 Abs. 3 FamFG), gilt dies auch für verfassungsgerichtliche Verfahren, jedenfalls als Orientierung.
  • Ansonsten können gesetzliche Vertreter (in der Regel die Eltern) die Minderjährigen auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren vertreten.
  • Dies gilt nicht, wenn die Vertretungsmacht das Recht zur gerichtlichen Vertretung nicht umfasst, also z.B. den Eltern das Sorgerecht insoweit entzogen wurde.
  • Das Vertretungsrecht ist auch ausgeschlossen, wenn ein Interessenkonflikt bestehen könnte. Dies gilt insbesondere für Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidung in Sorgerechtsverfahren.
  • Ausnahmsweise kann eine Vertretung durch die Eltern oder durch den Vertreter trotz Interessenskonflikts in Betracht kommen, wenn ansonsten die Interessen des Kindes nicht ausreichend gewahrt werden können.
  • Wurde für den Minderjährigen im familiengerichtlichen Verfahren bei Verfahrensbeistand bestellt, kann dieser auch Verfassungsbeschwerde für diesen erheben. Einer ausnahmsweisen Vertretung trotz Interessenkonflikts (siehe vorheriger Punkt) bedarf es dann nicht.
  • Kann der Minderjährige nicht durch seine Eltern vertreten werden, muss ihm für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ein Ergänzungspfleger durch das Familiengericht bestellt werden. (Ob das Vorhandensein eines Verfahrensbeistands die Bestellung eines Ergänzungspflegers unnötig macht, ist offenbar noch nicht entschieden worden.)
  • Ist absolut niemand da, der sich der Grundrechte des Minderjährigen annehmen könnte, sind also bspw. die Eltern ausgeschlossen und wurde kein Ergänzungspfleger bestellt, kommen andere Personen in Betracht, die sich in der Vergangenheit um ihn gekümmert haben. (Lediglich in der Entscheidung aus dem Jahr 1986 erwähnt, möglicherweise nicht mehr aktuell.)

Auf Nummer sicher gehen

Wie man merkt, ist die Regelung noch sehr unübersichtlich. Vor allem das Zusammenspiel zwischen Eltern, Verfahrensbeistand und Ergänzungspfleger ist kaum zu systematisieren und auch noch nicht vollständig geklärt.

Als Faustregel kann jedenfalls gelten, dass die Position des Minderjährigen im Verfassungsbeschwerdeverfahren die gleiche ist wie im zugrundeliegenden Fachverfahren. Wer dort selbst Rechtsmittel einlegen konnte, kann auch Verfassungsbeschwerde erheben. Die Eltern können keine Verfassungsbeschwerde für ihre Kinder erheben, wenn sie ihre Kinder im Fachverfahren auch nicht vertreten konnten.

In Zweifelsfällen wird man die Bevollmächtigung des Rechtsanwalts für die Verfassungsbeschwerde wohl durch alle Beteiligten – Minderjähriger, Eltern sowie, wenn vorhanden und möglich, Verfahrensbeistand und Ergänzungspfleger – erteilen lassen, um auf Nummer sicher zu gehen. Wie damit umzugehen ist, wenn diese Beteiligten unterschiedlicher Ansicht sind, wird dann eine Frage des Einzelfalls sein bzw. muss unter Umständen auch ausprobiert werden.

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