Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert bestimmte Grundrechte, die die Grundrechte des Grundgesetzes ergänzen. Da die EMRK nicht Teil des Völkergewohnheitsrechts ist, steht sie nicht gemäß Art. 25 GG über den Bundesgesetzen, sondern ist mit diesen gleichrangig. Die Bundesgesetze sind aber im Lichte der EMRK-Grundrechte auszulegen, insoweit ergibt sich also kein Rangverhältnis, sondern vielmehr eine Beeinflussung der deutschen Gesetze durch die EMRK.
EMRK: Recht, sich selbst vor Gericht zu verteidigen
Von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 6 EMRK, der das Recht auf ein faires Verfahren deutlich detaillierter regelt als das Grundgesetz. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK besagt:
Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen
Diese Vorschrift statuiert also das Recht, sich selbst verteidigen zu dürfen. Nun gibt es aber verschiedene Normen des deutschen Prozessrechts, die die Vertretung durch einen Rechtsanwalt vorschreiben, z.B.
- die notwendige Verteidigung im Strafprozess (§ 140 StPO),
- den Anwaltsprozess ab dem Landgericht im Zivilgericht (§ 78 ZPO),
- die grundsätzlich Anwaltspflicht im Familienrecht (§ 114 FamFG) oder
- die Vertretungspflicht vor den höheren Verwaltungsgerichten (§ 67 Abs. 4 VwGO).
Sind diese Vorschriften nun mit Art. 6 EMRK vereinbar?
Grundsätzlich muss man feststellen, dass deren Abs. 3 nur den Strafprozess betrifft, denn es wird von den Rechten der „angeklagten Person“ und von „Verteidigung“ gesprochen. In anderen Gerichtsbarkeiten ist diese Vorschrift also schon gar nicht direkt anwendbar.
Aber auch im Strafprozess ist dieses Recht nicht absolut. Im Verfahren „Correia de Matos gegen Portugal“ wollte sich ein portugiesischer Angeklagter selbst vor Gericht vertreten – dass der Angeklagte auch noch selbst Anwalt war, ist für diese Frage nur am Rande erheblich. Jedenfalls durfte er sich nach portugiesischem Strafprozessrecht nicht persönlich verteidigen.
Argumente des EGMR
Nachdem er mit diesem Vorhaben vor den nationalen Gerichten gescheitert war, ging er vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser hat ihm jedoch nicht Recht gegeben.
Dabei wurden folgende Argumente vorgebracht:
- Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK stellt kein absolutes Recht dar. Das staatliche Recht kann für besondere Fälle eine Anwaltspflicht festsetzen.
- Der Angeklagte darf sich selbst verteidigen, insbesondere sich gegenüber dem Gericht äußern. Er muss nur daneben noch einen Rechtsanwalt haben.
- Die Anwaltspflicht ist angemessenes Mittel, um eine sorgfältige Verteidigung sicherzustellen.
- Die Entscheidung über die Frage, wie der Angeklagte verteidigt wird, obliegt nicht ihm allein, sondern ggf. auch dem Gericht.
- Die Ausgestaltung des nationalen Rechtssystems liegt in erster Linie bei den Staaten, nicht beim EGMR.
- Dadurch, dass dem Angeklagten, wenn notwendig, auch ein Pflichtverteidiger auf Kosten des Staates gestellt wird, werden seine Rechte aus Art. 6 EMRK gerade geschützt.
Diese Argumente sind aus Sicht eines Angeklagten im Strafverfahren durchaus verständlich. Denn hier kommt er ja selbst um den Prozess herum. Die Verhandlung findet auch gegen seinen Willen statt und wenn er dann durch Anwalt verteidigt wird, ist das durchaus zu seinen Gunsten.
Persönliche Bewertung von Rechtsanwalt Thomas Hummel:
Im Strafprozess mag es zutreffend sein, dass die Rechte des Angeklagten in schwer wiegenden Fällen nicht durch diesen selbst gewahrt werden können. Es besteht unter Umständen die Gefahr, dass der Angeklagte das selbst auch falsch einschätzt
Anders verhält es sich aber in anderen Verfahren. Wer bspw. im Verwaltungs- oder Zivilrecht selbst als Kläger auftreten will, der will ja selbst mit diesem Prozess etwas erreichen. Scheitert er an der formalen Hürde, dass sein Antrag von einem Rechtsanwalt vorgebracht werden muss, dann kann er sein Rechtsschutzziel nicht erreichen und versäumt dadurch ggf. eine Frist, sodass sein Recht endgültig nicht mehr erreicht werden kann.
Die entsprechenden prozessualen Vorschriften stellen also eine Rechtsverweigerung zu Lasten des anwaltlich nicht vertretenen Bürgers dar. Zwar sind diese außerstrafrechtlichen Konstellationen, wie oben geschrieben, nicht von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK erfasst, eine eingehende Begründung für den Anwaltszwang bräuchte es aber trotzdem.