BayVGH, Beschluss vom 26.01.2021, Az. 20 NE 21.162 (Außerkraftsetzung 15-km-Beschränkung)

Mit dieser Entscheidung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die „15-Kilometer-Beschränkung“, nach der man sich in Corona-„Hotspots“ nicht mehr als diese Distanz von seinem Wohnort entfernen durfte, vorläufig außer Kraft gesetzt.

Hier werden zunächst die tragenden Erwägungen des Gerichts im Volltext wiedergegeben, eine Besprechung erfolgt nach und nach.

Nach dem im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gründenden Bestimmtheitsgebot müssen normative Regelungen wie z.B. Rechtsverordnungen so gefasst sein, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen kann, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag (BVerfG, B.v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01 – BVerfGE 108, 52). Die Anforderungen an die Normenklarheit sind dann erhöht, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwert (vgl. BVerfG, B. v. 3. 11.1982 – 1 BvR 210/79 – BVerfGE 62, 169). Sieht eine Rechtsverordnung – wie hier § 28 Nr. 22 11. BayIfSMV – die Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeit vor, gilt hier ein strenger Maßstab (BayVGH, B. v. 28.7.2020 – 20 NE 20.1609 – BeckRS 2020, 17622). Unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit hinreichend bestimmt i.S.d Art. 103 Abs. 2 GG ist, wenn jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten ist (Remmert in Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 103 Abs. 2 Rn. 92).

Eine Rechtsnorm muss so formuliert sein, dass man als normaler Bürger zumindest im Groben weiß, was drin steht. Das gilt umso mehr, wenn – wie hier – damit in Grundrechte eingegriffen wird oder ein Verstoß gegen die Rechtsnorm mit einem Bußgeld geahndet werden kann.

Diese Voraussetzungen erfüllt das Verbot des § 25 Abs. 1 Satz 1 11. BayIfSMV bei summarischer Prüfung nicht. Danach sind unbeschadet der §§ 2 und 3 touristische Tagesausflüge für Personen, die in dem betreffenden Landkreis oder der betreffenden kreisfreien Stadt wohnen, über einen Umkreis von 15 km um die Wohnortgemeinde hinaus untersagt, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt der nach § 28a Abs. 3 Satz 12 IfSG bestimmte Inzidenzwert von 200 Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen überschritten wird. (…)

Kurze Zusammenfassung des Regelungsinhalts.

Aus dem Verbot des § 25 Abs. 1 Satz 1 11. BayIfSMV ist für den Betroffenen jedoch nicht sofort erkennbar, ob seine Wohnortgemeinde und damit er selbst der Regelung unterworfen ist. Insoweit ist die Regelung unvollständig. Sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht ist aus der Regelung nicht unmittelbar ersichtlich, ab welchem Zeitpunkt das Verbot gilt und wie sich der erlaubte Aufenthaltsbereich für den Normunterworfenen konkret darstellt. Geht man dagegen davon aus, dass es sich bei § 25 Abs. 1 Satz 1 11. BayIfSMV ausschließlich um eine sog. Selfexecuting Norm handelt, also um eine solche, deren Verbotswirkung unmittelbar nach dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einsetzt, so wäre der Bürger, um nicht gegen das Verbot zu verstoßen, verpflichtet, die entsprechenden Inzidenzen für seinen Stadt- oder Landkreis unter der Webadresse http://corona.rki.de täglich abzurufen und sich zusätzlich z.B. mittels Kartenmaterials seinen zulässigen Bewegungsradius zu erschließen. Dies wäre im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip nicht hinnehmbar.

Die Regelung wird vom VGH als „self executing“ bezeichnet, das heißt: Sie tritt automatisch in Kraft, sobald ihre Voraussetzungen erfüllt sind, wenn also der Inzidenzwert im Kreis über die Grenze steigt. Ab diesem Moment muss der Bürger sich daran halten und riskiert eine Anzeige, wenn er dagegen verstößt. Daraus ergeben sich dann die Probleme, auf die der VGH im Weiteren eingeht.

Der Verordnungsgeber hat deswegen die zeitliche Komponente durch § 25 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV dahingehend konkretisiert, dass die zuständige Kreisverwaltungsbehörde die Überschreitung des Inzidenzwertes nach Satz 1 ortsüblich bekanntzumachen hat. Welche formellen Anforderungen an die Bekanntmachung zu stellen sind, kann hier dahingestellt bleiben, da jedenfalls eine Verpflichtung zur räumlichen Konkretisierung, etwa durch ortsübliche Bekanntmachung eines Planes durch die Kreisverwaltungsbehörde oder die Wohnsitzgemeinde, fehlt. Der räumliche Geltungsbereich für den durchschnittlichen Normadressaten muss jedoch ohne weitere Nachforschungen, besondere Fähigkeiten und Sachkenntnisse erkennbar sein. Von einem solchen Verständnis der Normenklarheit geht im Übrigen auch der Bayerische Landesgesetzgeber aus. Nach Art. 51 Abs. 2 LStVG sind die Grenzen des Bereichs, in dem einzelne Vorschriften einer Verordnung gelten, hinreichend deutlich und anschaulich zu beschreiben oder durch Abdruck einer genauen Karte festzulegen. Nur wenn dies nicht möglich ist, so genügt es, wenn die Verordnung die Grenzen des Bereichs grob umschreibt und im Übrigen auf Karten (Maßstab mindestens 1:25.000) oder Verzeichnisse Bezug nimmt.

Der räumliche Geltungsbereich einer Norm muss feststellbar sein. Man muss ohne nähere Kenntnisse feststellen können, wo sie gelten soll und wo nicht.

Normalerweise stellt das kein Problem dar, wenn die Norm im gesamten Einflussbereich des Gesetzgebers gilt, eine Verordnung der Staatsregierung also bspw. in ganz Bayern. Diese Norm soll aber ausdrücklich nur für einen Teil des Staatsgebiets (Hotspot-Kreise) gelten.

Man müsste also tagesaktuell die Inzidenzen im Internet abrufen. Denkbar wäre auch noch der Verweis auf Verzeichnisse, also bspw. auf eine Liste mit den aktuell betroffenen Kreisen. Darauf kam es im Endeffekt aber auch nicht mehr an, denn:

Alleine die textliche Festlegung eines 15-km-Umkreises um die Wohnortgemeinde, umschreibt nicht hinreichend deutlich und anschaulich den räumlichen Geltungsbereich des Verbots. Nach der Begründung der Verordnung zur Änderung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 8. Januar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 6) sind für die Berechnung der 15 Kilometer jeweils die Gemeindegrenzen maßgeblich. Selbst wenn man den Begriff des Umkreises nicht streng geometrisch versteht im Sinne eines Radius (was angesichts des tatsächlich unregelmäßigen Verlaufs der Gemeindegrenzen ausgeschlossen sein dürfte, vgl. aber die Begründung der Verordnung), sondern als eine an jedem Punkt 15 km breite Umgebung bzw. Zone um die jeweilige Gemeindegrenze herum, so ist dem Adressaten aus eigener Sinneswahrnehmung in der Regel nicht einmal annähernd klar, an welchem Gebietspunkt der Bereich des Umkreises beginnt und wo er endet. Sollte der Normbetroffene trotzdem in der Lage sein, die Gemeindegrenze, die in der Regel nicht mit der Ortstafel oder dem Ende des Bebauungszusammenhangs identisch ist, zu bestimmen, ist ihm nicht ohne Weiteres ersichtlich, wo der 15 km-Umkreis endet. Dies gilt umso mehr, als es sich hierbei um eine Luftlinienentfernung handeln dürfte, die im natürlichen Gelände nur schwer einschätzbar ist. Die Tatsache, dass nunmehr verschiedene elektronische Tools die Feststellung eines (wie auch immer ermittelten) 15-km-Umkreises technisch ermöglichen, ist für die Beurteilung der Frage der Klarheit einer Norm unerheblich, denn diese muss sich aus der Norm selbst ergeben.

Es ist praktisch unmöglich, festzustellen, wo genau der 15-km-Radius verläuft. Man müsste von jedem Punkt einer (fast immer unregelmäßig geformten) Gemeinde einen Kreis ziehen und so ein „erlaubtes Gebiet“ konstruieren.

Dann müsste man bei Ausflügen o.ä. permanent überprüfen, ob man noch in diesem Gebiet ist.

Dass es Möglichkeiten gibt, seinen Standort abzurufen (insb. per Handy mit GPS und bspw. Google Maps) reicht nicht. Denn der Staat darf dem Bürger solche Pflichten nicht auferlegen, sondern muss seine Rechtsnormen so gestalten, dass man sie ohne besonderen Aufwand einhalten kann.

Damit ist bereits aus diesem Grunde ein Normenkontrollverfahren in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich. Ob das Verbot touristischer Ausflugsreisen nach § 25 Abs. 1 Satz 1 11 BayIfSMV tatsächlich geeignet und erforderlich ist, das von der Begründung der 11. BayIfSMV genannte Ziel, dichte Menschenansammlungen, beispielsweise auch an beliebten touristischen Ausflugszielen, zu verhindern, kann damit offenbleiben. Dies erscheint aber angesichts der Tatsache, dass der touristische Ausflugsverkehr aus anderen Kommunen ungehindert stattfinden kann und der Möglichkeit regionaler, möglicherweise weniger einschneidenderen Maßnahmen, zweifelhaft. Auch die Gefahr der verstärkten Ansammlungen von Personen innerhalb des 15-km-Umkreises (https://www.br.de/nachrichten/bayern/virologin-protzer-stellt-15-kilometer-regel-infrage,SLmwo8C) erscheint erwägenswert. Weiter ist unklar, ob das von der Begründung zudem genannte Ziel der Maßnahme, die Mobilität hinsichtlich touristischer Tagesausflüge, d.h. Ausflügen, die der Freizeitgestaltung (z.B. Wandern, Spazierengehen, freizeitsportliche Aktivitäten) dienen, aus Gebieten mit besonders hoher Inzidenz heraus einzuschränken und auf diese Weise eine Ausbreitung des Infektionsgeschehens zu unterbinden, dadurch tatsächlich erreichbar ist. Denn die touristische Mobilität und damit auch der Eintrag des Ansteckungsgeschehens in die angrenzenden Gebiete anderer Stadt- und Landkreise innerhalb des Umkreises wird durch die 15- km-Grenze nicht unterbunden, so dass die Effektivität der Maßnahme unklar ist (vgl. hierzu https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/dirk-brockmann-corona-massnahmen-mobilitaet-angela-merkel-mega-lockdown/seite-3).

Weil das Verbot schon aus formellen Gründen rechtswidrig ist, kommt es auf eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht mehr an. Das Gericht musste also nicht prüfen, ob die Regelung geeignet ist, die Bevölkerung vor Corona zu schützen, und ob die Freiheitseinschränkung verhältnismäßig ist.

Allerdings meldet der Verwaltungsgerichtshof hier doch gewisse Zweifel an.

Wie geht es nun weiter?

Prinzipiell kann die Staatsregierung die Regelung in abgewandelter Form wieder erlassen.

Allerdings dürfte es schwierig werden, die Kritikpunkte auszuräumen. Denkbar wäre z.B. eine klarere Regelung dahingehend, dass sie in ganz Bayern gilt und es nicht um 15 km Distanz geht, sondern bspw. der eigene Landkreis nicht verlassen werden darf.

Das würde dann aber bedeuten, dass für viele Bürger die Einschränkungen noch schwer wiegender werden. Dies wiederum würde mit den abschließenden Bemerkungen kollidieren, dass die Wirksamkeit ohnehin fraglich ist.

Der Raum für eine wirksame Begrenzung der Bewegungsmöglichkeiten der Bürger dürfte also recht gering sein.

Vollständige Entscheidung: https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/21a00162b.pdf

Pressemitteilung: https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/pm_ffp2-pflicht_und_15-km-regel.pdf

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