Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14.07.1959, I C 170/56

Nur Volltext mit Leitsätzen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in diesem Urteil auch zur Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht (damals gegen die Pocken) geäußert. Die entsprechenden Passagen sind unten fett markiert und wurden durch eingefügte Absätze strukturiert.

Leitsätze:

1. Der durch das Impfgesetz vom 8. 4. 1874 (RGBl. S. 31) angeordnete Impfzwang ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. Der Impfpflicht entspricht ein Recht des Bürgers auf Impfung.

3. § 2 Impfgesetz schließt die Berücksichtigung einer allgemeinen Gefährdung der Erstimpflinge von der Erreichung einer bestimmten Altersstufe an nicht aus.

4. Die Entscheidung des Impfarztes, ob eine Impfung vorzunehmen ist, darf nur von ärztlichen Erwägungen und nicht von einer Haftungsübernahme des gesetzlichen Vertreters des Impflings für etwaige Impfschäden abhängig gemacht werden.

Urteilsbegründung:

(Sachverhalt, Prozessgeschichte)

Die Beklagte (Kreisverwaltung des O.-Kreises) stellte im Jahr 1951 die damals zweieinhalbjährige Klägerin zu 1 von der Pockenschutzimpfung zurück und übersandte dem Kläger zu 2 – Vater der Klägerin zu 1 als gesetzlichem Vertreter – unter dem 20. 4. 1951 ein Zeugnis, nach dem sie gemäß den ministeriellen Bestimmungen vom 10. 5. 1950 aus gesundheitlichen Gründen von der Pockenschutzimpfung gänzlich befreit wurde.

Den hiergegen eingeleiteten Einspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, daß eine Erstimpfung von Kindern, die das zweite Lebensjahr vollendet haben, auf ausdrückliche Anweisung der obersten Gesundheitsbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen unterbleibe. Die Beklagte erklärte sich aber bereit, die Klägerin zu 1 an einem öffentlichen kostenlosen Impftermin teilnehmen zu lassen, wenn der Kläger zu 2 dies ausdrücklich wünsche und für gesundheitliche Schäden die volle Verantwortung übernehme.

Das Landesverwaltungsgericht wies die Klage ab, die Berufung der Kläger wurde vom Berufungsgericht zurückgewiesen. Auf die Revision der Kläger wurden die gerichtlichen Vorentscheidungen und das Impfbefreiungszeugnis der Beklagten vom 20. 4. 1951 sowie ihr Einspruchsbescheid vom 25. 5. 1951 aufgehoben.

(Rechtliche Erwägungen)

Die Entscheidung der Frage, ob die Kläger in ihren Rechten beeinträchtigt worden sind, hängt zunächst davon ab, ob der im Impfgesetz vom 8. 4. 1874 (RGBl. S. 31) angeordnete Impfzwang mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Von den Impfgegnern wird behauptet, daß das Impfgesetz gegen das Grundgesetz verstoße, weil die heutigen hygienischen Verhältnisse die Verbreitung einer Pockenepidemie auch ohne Schutzimpfung nicht zuließen und die Impfung mit Tierlymphen nicht nur die Ursache für Encephalitis, sondern auch für Krebs, Kinderlähmung und andere schwere Krankheiten bilde.

Die Vereinbarkeit des Impfzwanges mit dem Grundgesetz ist zu bejahen. Die Impfung stellt zwar einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Er fällt jedoch unter den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG.

Der Wesensgehalt des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit wird nicht durch einen Eingriff angetastet, dessen Zielsetzung gerade die Erhaltung der Unversehrtheit ist. Auch im Parlamentarischen Rat war man sich bei der Schaffung dieses Grundrechts einig, daß der Impfzwang ihm nicht widerspricht (vgl. Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 1, S. 60).

Im übrigen sind dem Gericht bei der Prüfung der Frage, ob das Impfgesetz ein erforderliches Mittel zur Bekämpfung der Pockenseuche ist, enge Grenzen gezogen.

Es handelt sich bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 nicht wie bei Art. 12 um ein Grundrecht, das in sich Bereiche schwächeren und stärkeren Freiheitsschutzes enthält und bei dem nach den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 11. 6. 1958 (BVerfGE 7, 377) entwickelten Grundsätzen im Falle eines Eingriffs des Gesetzgebers jedesmal geprüft werden muß, ob gesetzliche Maßnahmen auf den vorausliegenden Stufen nicht ausgereicht hätten, ob also der tatsächliche Eingriff „zwingend geboten” war.

Bei einem Grundrecht, das in sich keine abgestuften Schutzbereiche enthält, ist der Gesetzgeber in der Wahl seiner Mittel freier gestellt. Erst die eindeutige Unangemessenheit der gesetzlichen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, deren sie Herr werden soll, führt hier zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit (BVerfGE 2, 266).

Die Frage, ob die vom Impfgesetz getroffene Regelung eindeutig unangemessen und ungeeignet zur Bekämpfung der Pockenseuche ist, kann aber nur in verneinendem Sinn beantwortet werden. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Gutachten vom 25. 1. 1952 (BGHSt. 4, 375) eine Reihe unbestreitbarer Tatsachen zusammengestellt, welche nach den obigen Ausführungen die im Impfgesetz getroffene Regelung rechtfertigen.

Er hat insbesondere darauf hingewiesen, daß die planmäßige Impfung der Bevölkerung die noch im vorigen Jahrhundert aufgetretenen Pockenepidemien in vielen europäischen Ländern zum Erlöschen gebracht hat, daß hingegen in England, wo infolge der dort bestehenden Gewissensklausel nur etwa 50% der Kinder geimpft werden, in den Jahren 1926 bis 1932 kleinere Epidemien andauerten.

Der Bundesgerichtshof hat weiter darauf hingewiesen, daß in anderen Teilen der Welt Seuchenherde fortbestehen und daß das Anwachsen des Reiseverkehrs und die Schnelligkeit der Verkehrsmittel eine wirksame Überwachung pockenverdächtiger Reisender erschwert, weil die Reisen oft kürzer dauern als die Inkubationszeit von 13–17 Tagen.

Wenn der Bundesgerichtshof demgemäß die Verfassungsmäßigkeit des Impfzwanges bejaht, so ist dem beizutreten (ebenso OLG Hamm in JMBl. NRW 1953 S. 10; Kern in Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 2 S. 62; v. Mangoldt-Klein, 2. Aufl., Anm. V 3 zu Art. 2 GG S. 187; vgl. ferner OVG Lüneburg,1) OVGE 5, 453; VGH Stuttgart in DÖV 1958 S. 159; OLG Celle in NJW 1958 S. 1407).

Nach Ansicht des Senats entspricht der Impfpflicht ein Anspruch des Bürgers auf Impfung. Das Impfgesetz spricht zwar nur von Impfpflichtigen. Das Berufungsgericht hat jedoch mit Recht darauf hingewiesen, daß die Bestimmungen des Impfgesetzes nicht allein nach den zur Zeit seines Erlasses geltenden Anschauungen zu beurteilen sind, sondern daß das Verhältnis von Staat und Bürger in der heutigen Rechtsordnung maßgebend ist. Hat der Staat als Teil der Daseinsvorsorge die Aufgabe des Seuchenschutzes übernommen, dann muß dem Einzelnen nicht nur gegen Schäden, die er bei der Durchführung der Seuchengesetzgebung erleidet, sondern auch gegen die Versagung dieses Schutzes Rechtsschutz gewährt werden. Daraus folgt, daß ihm die Möglichkeit gegeben sein muß, bei einer nach seiner Auffassung nicht dem Gesetz entsprechenden Zurückstellung von dem Seuchenschutz diese vor dem Gericht anzufechten. Es mag in diesem Zusammenhang auch auf das vom Berufungsgericht angeführte, in Art. 2 Abs. 2 GG verbriefte Grundrecht auf Leben verwiesen werden. Maunz-Dürig, Grundgesetz, Anm. III 1 Randziff. 26 und 27 zu Art. 2 Abs. 2 GG, weisen mit Recht darauf hin, daß der Staat nicht nur durch aktives Tun, sondern auch durch Unterlassen töten kann und daß die Rechtswidrigkeit eines Unterlassen hier wie immer davon abhängt, ob positiv eine Rechtspflicht zum Tätigwerden besteht. Daß der Staat aber bestimmte Personen oder Personengruppen nicht ohne besonderen Grund von dem Schutz gegen eine lebensgefährliche Ansteckung ausschließen darf, ergibt sich aus dem Sinngehalt des Art. 2 GG und aus den Grundrechtsaussagen über den Menschen überhaupt. Das negative Abwehrrecht wird in diesem Zusammenhang zu einem positiven Recht, vor der Ansteckung bewahrt zu werden (vgl. Maunz-Dürig, aaO). Hieraus ergibt sich, daß das Berufungsgericht der Klägerin zu 1 eine Rechtsstellung im Sinne des § 23 Abs. 1 MRVO Nr. 165 mit Recht zuerkannt hat. Sie ist auch für den Kläger zu 2 zu bejahen. Sie ergibt sich unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen bereits aus dem ihm zustehenden Personensorgerecht. Außerdem wird die Rechtsstellung des Klägers zu 2 auch insofern berührt, als er nach dem Einspruchbescheid die Haftung für die Impfschäden übernehmen soll und sich seine Unterhaltspflicht gegenüber der Klägerin zu 1 durch die Möglichkeit einer späteren, durch die Impfbefreiung eintretenden Ansteckung erheblich erweitern kann.

§ 23 MRVO Nr. 165 setzt weiter voraus, daß die Eingriffe in die Rechte der Kläger auch rechtswidrig gewesen sind. Hierbei ist davon auszugehen, daß das Recht auf Teilnahme am Impfschutz nicht ausnahmslos gilt. § 2 Impfgesetz sieht eine Zurückstellung von der Impfung vor, wenn der Impfpflichtige nach ärztlichem Zeugnis ohne Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit nicht geimpft werden kann. Hierbei hat es der Gesetzgeber nur auf den individuellen Zustand des jeweiligen Impflings abgestellt (vgl. Federhen, Der Arzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes, 1952, S. 390). Nach § 2 Abs. 1 Impfgesetz ist der Impfling binnen Jahresfrist nach Aufhören des die Gefahr bedingenden Zustandes der Impfung zu unterziehen. Nach Abs. 2 entscheidet über das Fortbestehen der Gefahr in zweifelhaften Fällen der zuständige Impfarzt (§ 6 Impfgesetz). Diese Bestimmungen zeigen, daß die Regelung des § 2 Impfgesetz auf die im vorliegenden Rechtsstreit aufgeworfene Frage, ob Impflinge von der Erreichung einer bestimmten Altersgrenze an allgemein und endgültig von der Impfung zu befreien sind, nicht zugeschnitten war. Dies hat aber nicht zur Folge, daß neue medizinische Erkenntnisse, die auf dem Gebiet des Impfwesens seit dem Inkrafttreten des Impfgesetzes gewonnen worden sind, für die Entscheidung außer Betracht zu bleiben haben. Vielmehr muß der dem § 2 Impfgesetz zugrunde liegende Gedanke, daß die Impfung bei Gefahr für Leben oder Gesundheit des Impflings zu unterbleiben hat, zum Ausgangspunkt genommen werden. Wenn hierbei nur eine konkrete Gefährdung berücksichtigt worden ist, so lag dies daran, daß die Ansicht, von der Erreichung einer bestimmten Altersgrenze an müßten alle Erstimpflinge schon wegen der Erhöhung der mit der Impfung verknüpften Gefahren von ihr allgemein befreit werden, damals noch außerhalb des Vorstellungskreises des Gesetzgebers lag (wird ausgeführt). Wenn daher § 2 Impfgesetz dahin ausgelegt wird, daß er auch die Berücksichtigung einer generellen Gefährdung aller Erstimpflinge von der Erreichung eines bestimmten Lebensalters an nicht ausschließt, so werden damit nicht nur moderne wissenschaftliche Erfahrungen und Forschungsergebnisse der forensischen Verwertung zugänglich gemacht; auch der Sinngehalt des Gesetzes selbst wird dadurch nicht geändert.

Eine solche Auslegung steht auch mit der Stellung in Einklang, die das Gesetz dem Impfarzt zugewiesen hat. Wie bereits erwähnt, hat das Gesetz in seine Hände die Entscheidung darüber gelegt, ob ein zurückgestellter Impfpflichtiger ohne Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit geimpft werden kann (vgl. auch die §§ 7 Buchst. e, 9 Verordnung zur Ausführung des Impfgesetzes vom 22. 1. 1940, RGBl. I S. 214). Die Frage der Impfung hat der Impfarzt also nach seinem ärztlichen Gewissen zu beantworten. Es geht nicht an, ihm bei seiner Entscheidung die Berücksichtigung neuer ärztlicher Erkenntnisse zu verbieten. Damit sind zugleich die Grenzen gezogen, innerhalb deren sich die Entscheidung des Impfarztes zu bewegen hat. Für die Frage, ob der Impfling zu impfen ist, können und dürfen für den Impfarzt allein ärztliche Gesichtspunkte maßgebend sein. Nur die Gefahr für Leben und Gesundheit des Impflings hat für die Entscheidung des Impfarztes eine Rolle zu spielen (vgl. hierzu die in § 7 Verordnung zur Ausführung des Impfgesetzes vom 22. 1. 1940 aufgeführten Pflichten des Impfarztes).

Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, können die angefochtenen Verwaltungsakte keinen Bestand haben. Das Zeugnis vom 20. 4. 1951 erweckt zwar durch die Bezugnchme auf den Erlaß des Sozialministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10. 5. 1950 und nach seinem Wortlaut zunächst den Anschein, daß gesundheitliche Erwägungen zur Zurückstellung der Klägerin zu 1 von der Impfung geführt haben. Aus dem Einspruchbescheid, in dem der Wille der Beklagten seine endgültige Gestalt gewonnen hat, ergibt sich jedoch etwas anderes. In ihm erklärt sich die Beklagte trotz der in ihrem Zeugnis vom 20. 4. 1951 selbst geäußerten ärztlichen Bedenken zur kostenlosen Impfung bereit, sofern der Kläger zu 2 die Haftung für etwaige gesundheitliche Schäden übernimmt. Hieraus ergibt sich, daß für die Entscheidung der Beklagten nicht das ärztliche Verantwortungsbewußtsein für das Leben und die Gesundheit der Klägerin zu 1, sondern die Rücksicht auf eine etwaige vermögensrechtliche Inanspruchnahme wegen Impfschäden maßgebend gewesen ist. Diese Erwägungen machen die angefochtenen Verwaltungsakte fehlerhaft. Der Eingriff in die Rechte der Klägerin ist damit zu Unrecht erfolgt. Die Bescheide waren daher zugleich mit den Entscheidungen der Vorinstanzen entsprechend dem Antrag der Revision aufzuheben. Der Impfarzt wird nunmehr erneut in eine Prüfung der Frage eintreten müssen, ob die Klägerin zu 1 zu impfen ist und welche medizinischen Erwägungen für und gegen eine Impfung sprechen.

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