Dieses Gutachten des Bundesgerichtshofs ist eine der ganz wenigen Entscheidungen von deutschen Obergerichten zur Frage der Zulässigkeit einer Impfpflicht. Angesichts der Ende 2021 aufgeflammten Diskussionen um eine Corona-Impfpflicht könnte diese Entscheidung eine gewisse Bedeutung erlangen. Freilich darf man nicht vergessen, dass sie bereits 70 Jahre alt ist und eine ihrerseits schon seit mehr als 70 Jahren bestehende Pflicht betraf.
Bei dieser Entscheidung handelte es sich in mehrerer Hinsicht um ein Kuriosum:
- Der Bundesgerichtshof entschied keinen konkreten Fall endgültig, sondern erstattete ein Gutachten. Dabei ging es um die Frage, ob die Pocken-Impfpflicht aus dem Kaiserreich noch immer Teil des Rechts der Bundesrepublik war. Gemäß Art. 126 GG entschied darüber das Bundesverfassungsgericht, wobei der Bundesgerichtshof dafür zuständig war, eine Vorprüfung vorzunehmen.
- Vorlegendes Gericht war das Friedensobergericht Stuttgart. Dabei handelte es sich um eine traditionelle Besonderheit Baden-Württembergs. Damals gab es für kleinere Strafsachen Friedensgerichte bei Gemeinden und anderen Behörden und das altbekannte Amtsgericht, das als Berufungsinstanz gegen das Friedensgericht fungierte und insoweit als „Friedensobergericht“ bezeichnet wurde. Diese Friedengerichtsbarkeit ist mittlerweile längst abgeschafft worden.
- Zuständig für die Entscheidung in Verfahren nach Art. 126 GG war stets der erste Zivilsenat des Bundesgerichtshofs. Hier hat also ein Zivilgericht über eine strafrechtliche Frage entschieden.
Der BGH hat hier entschieden, dass er eigentlich gar nicht zuständig war. Denn die Vorlage nach Art. 126 GG setzt voraus, dass streitig ist, ob Recht des früheren Deutschen Reichs aufgrund der Überleitungsvorschriften des Grundgesetzes (Art. 124 und 125 GG) als Bundesrecht weitergilt. Es ging also um rein technische Fragen des Übergang von der einen Staatsform zur anderen.
Was das Friedensobergericht hier machte, war aber faktisch ein Normenkontrollantrag. Denn es war der Meinung, dass die Impfpflicht gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verstößt. Eine solche Prüfung war nicht nach Art. 126 GG vorzunehmen.
Trotzdem äußerte sich der Bundesgerichtshof aber noch zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Impfzwangs und bejahte diese. Die Impfung sei ein relativ geringfügiger Eingriff, der angesichts der damals noch reellen Gefahr eines Pockenausbruchs auch in Deutschland gerechtfertigt sei.
Im Einzelnen:
Der Senat teilt nicht die Meinung des Friedensobergerichts Stuttgart, dass das Impfgesetz unvereinbar mit dem in Art. 2 Abs. 2 GrundG anerkannten Recht auf körperliche Unversehrtheit sei. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit gilt nach dem Grundgesetz nicht unbeschränkt, sondern ist durch Gesetz einschränkbar.
(…)
Der Impfzwang ordnet einen in der Regel unbedeutenden vorbeugenden ärztlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen an, um von diesem und der Volksgesamtheit die Gefahr schwerer, zu epidemischem Auftreten neigender Pockenerkrankungen abzuwehren.
(…)
In Indien tritt die Krankheit nach wie vor epidemisch auf und es starben dort 1929 148.101 und 1930 203.599 Menschen an Pocken. Infolgedessen kann auch in Europa von einer Beseitigung der Pockengefahr keine Rede sein, solange große Seuchenherde in anderen Teilen der Welt fortbestehen. Das Anwachsen des Reiseverkehrs und die Schnelligkeit der Verkehrsmittel erschweren eine wirksame Überwachung pockenverdächtiger Reisender, weil die Reisen oft kürzer dauern als die Inkubationszeit von 13 – 17 Tagen (Friedemann im Handbuch der Pockenbekämpfung S. 53).
Besteht also auch in Europa die Möglichkeit der Pockeneinschleppung fort, so würde jede Auflockerung des Immunitätsschutzes von neuem die Gefahr epidemischer Volkserkrankungen heraufbeschwören. Dieser Gefahr gegenüber ist der Eingriff der Impfung unverhältnismäßig gering. Daß er schädliche Folgen in Einzelfällen haben kann, ist unbestritten. Sie sind aber selten und treten seit der im Gesetz geregelten Überwachung des Impfverfahrens (§ 6) immer mehr zurück (Gins aaO). Das Gesetz selbst sieht in § 2 die Aussetzung des Impfzwanges für die Dauer einer zuverlässig erkannten Gesundheitsgefährdung des Impflings vor, trägt also Sorge dafür, dass der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit auf den geringst möglichen Umfang beschränkt wird.
Der Impfzwang muß daher immer noch als zumutbar und verfassungsmäßig angesehen werden. Er erfolgt aus einer zwingenden übergeordneten Notwendigkeit heraus und tastet die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen nur in dem nach Lage der Sache geringst möglichen Umfange an. Ja er verfolgt, im Grunde genommen, den Zweck, durch den in aller Regel geringfügigen ärztlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Einzelnen die Möglichkeit einer viel schwereren Versehrung dieser sowohl wie auch des ganzen Volkes durch epidemische gefährliche Krankheit zu verhindern.
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1 Gedanke zu „Bundesgerichtshof, Gutachten vom 25.01.1952, Az. VRG 5/51“
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