Enver Sahin gegen Türkei – Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK
Dem querschnittsgelähmten Kläger wurde ein Studium in seinem Heimatland Türkei verwehrt, da die Universitätsgebäude nicht behindertengerecht waren. Die Hochschule und die angerufenen Gerichte argumentierten, dass es der Verwaltung nicht zumutbar sei, für barrierefreien Zugang zu Hörsälen etc. zu sorgen.
Der EGMR entschied, dass dies das Diskriminierungsverbot der EMRK sowie das Recht auf Bildung verletzt. Die Gerichte hätten bei ihrer Abwägung die Menschenrechte des Klägers nicht hinreichend beachtet.
Mit dieser Entscheidung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die „15-Kilometer-Beschränkung“, nach der man sich in Corona-„Hotspots“ nicht mehr als diese Distanz von seinem Wohnort entfernen durfte, vorläufig außer Kraft gesetzt.
Hier werden zunächst die tragenden Erwägungen des Gerichts im Volltext wiedergegeben, eine Besprechung erfolgt nach und nach.
Nach dem im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gründenden Bestimmtheitsgebot müssen normative Regelungen wie z.B. Rechtsverordnungen so gefasst sein, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen kann, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag (BVerfG, B.v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01 – BVerfGE 108, 52). Die Anforderungen an die Normenklarheit sind dann erhöht, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwert (vgl. BVerfG, B. v. 3. 11.1982 – 1 BvR 210/79 – BVerfGE 62, 169). Sieht eine Rechtsverordnung – wie hier § 28 Nr. 22 11. BayIfSMV – die Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeit vor, gilt hier ein strenger Maßstab (BayVGH, B. v. 28.7.2020 – 20 NE 20.1609 – BeckRS 2020, 17622). Unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit hinreichend bestimmt i.S.d Art. 103 Abs. 2 GG ist, wenn jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten ist (Remmert in Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 103 Abs. 2 Rn. 92).
Eine Rechtsnorm muss so formuliert sein, dass man als normaler Bürger zumindest im Groben weiß, was drin steht. Das gilt umso mehr, wenn – wie hier – damit in Grundrechte eingegriffen wird oder ein Verstoß gegen die Rechtsnorm mit einem Bußgeld geahndet werden kann.
Wann und wie können Minderjährige eine Verfassungsbeschwerde erheben? Dazu haben sich die Verfassungsrichter bisher nur spärlich geäußert.Seit über 70 Jahren gibt es mittlerweile das Rechtsinstrument der Verfassungsbeschwerde. Trotzdem sind manche grundlegende Fragen, die sich eigentlich immer wieder stellen sollten, bis heute nicht oder nur in Ansätzen geklärt. Dies liegt häufig daran, dass das Bundesverfassungsgericht ein wahrer Meister darin ist, immer nur das zu sagen, was für seine Entscheidung unbedingt notwendig ist. Ist es möglich, das Urteil so zu konstruieren, dass es auf eine bislang umstrittene oder nicht endgültig entschiedene Frage nicht ankommt, lassen die Richter die Frage oftmals ausdrücklich offen.
Eine solche weitgehend offen gelassene Frage war (und teilweise ist) diejenige, ob und wie Minderjährige eine Verfassungsbeschwerde erheben bzw. einen Rechtsanwalt dafür beauftragen können.
Grundrechte gelten auch für Minderjährige
Nicht ernsthaft bestritten wird, dass die Grundrechte auch für Kinder und Jugendliche gelten. Und sie können diese Grundrechte auch mittels der Verfassungsbeschwerde durchsetzen. Unklar sind jedoch die prozessualen Wege zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde vor Erreichen der Volljährigkeit, insbesondere ob dies ab einem gewissen Alter selbst möglich ist (teilweise auch unscharf als „Grundrechtsmündigkeit“ bezeichnet, wobei das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff nicht benutzt) und ob es ansonsten die Eltern oder andere Vertreter dafür braucht.
Im Jahr 1986 hatte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals ausführlicher (aber immer noch sehr auf den Einzelfall konzentriert) zu dieser Frage geäußert. In Anknüpfung daran hat das Gericht dann in der hier besprochenen Entscheidung im Jahr 2020 etwas präzisere und vollständigere Maßstäbe aufgestellt. Diese beziehen sich in den Details vor allem auf familienrechtliche Verfahren, sind in ihren allgemeinen Aussagen aber auch auf andere Verfassungsbeschwerden anwendbar.
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in diesem Urteil auch zur Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht (damals gegen die Pocken) geäußert. Die entsprechenden Passagen sind unten fett markiert und wurden durch eingefügte Absätze strukturiert.
Leitsätze:
1. Der durch das Impfgesetz vom 8. 4. 1874 (RGBl. S. 31) angeordnete Impfzwang ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
2. Der Impfpflicht entspricht ein Recht des Bürgers auf Impfung.
3. § 2 Impfgesetz schließt die Berücksichtigung einer allgemeinen Gefährdung der Erstimpflinge von der Erreichung einer bestimmten Altersstufe an nicht aus.
4. Die Entscheidung des Impfarztes, ob eine Impfung vorzunehmen ist, darf nur von ärztlichen Erwägungen und nicht von einer Haftungsübernahme des gesetzlichen Vertreters des Impflings für etwaige Impfschäden abhängig gemacht werden.
Urteilsbegründung:
(Sachverhalt, Prozessgeschichte)
Die Beklagte (Kreisverwaltung des O.-Kreises) stellte im Jahr 1951 die damals zweieinhalbjährige Klägerin zu 1 von der Pockenschutzimpfung zurück und übersandte dem Kläger zu 2 – Vater der Klägerin zu 1 als gesetzlichem Vertreter – unter dem 20. 4. 1951 ein Zeugnis, nach dem sie gemäß den ministeriellen Bestimmungen vom 10. 5. 1950 aus gesundheitlichen Gründen von der Pockenschutzimpfung gänzlich befreit wurde.
Formgültige Unterschrift oder bloße Paraphe?In der immer wieder für Erheiterung sorgenden Frage, wie eine formgültige Unterschrift auszusehen hat (siehe hier und hier), gibt es zwei neue OLG-Entscheidungen, die ich im stets erhellenden Blog des Kollegen Dr. Burhoff gefunden habe.
Im Wesentlichen wird die bisherige Rechtsprechung bestätigt, wonach jedes individuelle Schriftzeichen als Unterschrift gilt, den man (auch mit gewisser Phantasie) als Namenszug erkennen kann.
Interessant ist aber, dass beide Gerichte auch auf die Frage abstellen, ob eine bloße Paraphe, die eben keine Unterschrift darstellen soll, aufgrund der äußeren Umstände nahe liegen könnte.
Das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) ermöglicht die Übermittlung digitaler Schriftsätze in sicherer und prozessual korrekter Weise per Internet. Es stand und steht allerdings unter erheblicher Kritik, weil es erst mit deutlicher Verspätung an den Start ging und häufig nicht benutzbar ist.
Dies hat nun auch der BGH aufgegriffen. In einem Verfahren hatte ein Patentanwalt kurz vor Fristablauf den Schriftsatz gefaxt. Wegen einer Faxstörung ging das Schreiben aber – wie er selbst gemerkt hat – nicht vollständig beim Gericht ein.
Der Bundesgerichtshof hat daraufhin entschieden, dass er das Fristversäumnis nicht verschuldet hat. Denn kurz vor Fristablauf auch noch das störungsanfällige beA zu benutzen, wäre ihm nicht zumutbar gewesen:
Im gesamten Verwaltungsrecht spielt die Drei-Tages-Fiktion bzw. Drei-Tages-Vermutung für den Zugang von Briefen eine erhebliche Rolle. Diese besagt, dass ein von einer Behörde zur Post gegebener Brief regelmäßig nach drei Tagen seinen Empfänger erreicht hat.
Es besteht also grundsätzlich eine Vermutung, dass ein nachweislich versandtes Schreiben am dritten Tag nach Versendung angekommen ist. Gleichzeitig verbleibt aber die Beweislast bei der Behörde, wenn es Zweifel daran gibt, dass ein bestimmter Brief tatsächlich an diesem Datum zugegangen ist. Sollte der Brief nachweislich früher angekommen sein, wird trotzdem so getan als sei er erst nach drei Tagen angekommen, insoweit besteht also eine echte Fiktion.
Eine derartige Regelung findet sich sowohl im allgemeinen Verwaltungsrecht des Bundes (§ 41 Abs. 2 VwVfG, § 4 Abs. 2 VwZG) als auch im Sozialrecht (§ 37 Abs. 2 SGB X) und im Steuerrecht (§ 122 Abs. 2 AO) sowie in den meisten entsprechenden Landesgesetzen.
Diese Urteilssammlung soll verschiedene Gerichtsentscheidungen darstellen, die sich mit der Anwendung dieser Regel beschäftigt haben.
]Das Landgericht Tübingen, insbesondere ein Richter der fünften Zivilkammer, ist bekannt für sehr bürgerfreundliche Rechtsanwendung im Bereich der Zwangsvollstreckung von Rundfunkbeiträgen. In einem bemerkenswerten Beschluss vom Februar diesen Jahres setzt er sich mit der Rechtsprechung in diesem Zusammenhang auseinander. Diese wollen wir daher hier im Volltext wiedergeben:
1. Auf die sofortige Beschwerde des Schuldners wird der Beschluss des Amtsgerichts Calw vom 24.01.2020, Az. 9 M 146/20, aufgehoben und die verfahrensgegenständliche Zwangsvollstreckungsmaßnahme eingestellt.
2. Die Gläubigerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.
I.
Zur Begründung kann zunächst auf die nachfolgend wiedergegebenen Gründe im Beschluss des LG Tübingen vom 29.8.2019, 5 T 192/19, Bezug genommen werden.
II.
In dieser Entscheidung vom 29.8.2019 ist auch ausgeführt:
Ein Strafurteil besteht aus mehreren Teilen. Die wichtigsten, was die Feststellung der Schuldfrage angeht, sind der Tatbestand und die Beweiswürdigung:
Im Tatbestand schreibt das Gericht nieder, was seiner Ansicht nach im zugrunde liegenden Fall passiert ist.
In der Beweiswürdigung erklärt das Gericht, wie es zu dieser Ansicht gelangt ist, also was der Angeklagte gesagt hat, welchen Zeugen es geglaubt hat, welche Beweise vorgelegt wurden usw.
Daraus kann das Rechtsmittelgericht dann ableiten, ob das Gericht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen ist, ob die Beweiswürdigung schlüssig war und ob auch die rechtlichen Vorschriften korrekt auf den festgestellten Sachverhalt angewandt wurden.
Das Landgericht Kaiserslautern wollte das alles in einem umfangreichen Betrugsfall rund um Solarmodule besonders gut machen. Drei Jahre lang wurde an insgesamt 104 Sitzungstagen über einen einzelnen Betrug mit einem Schaden von immerhin deutlich über 10 Millionen Euro verhandelt. Am Schluss hielt das Gericht den Angeklagten für schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Gefängnis. Dieses Urteil begründete die Strafkammer auf 548 Seiten, davon 262 Seiten Sachverhaltsschilderung.
Broniowski gegen Polen – Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Staatsgrenzen Polens neu festgelegt (sog. Westverschiebung Polens). Ehemals polnisches Gebiet lag nun in der Sowjetunion. Die polnischen Bürger, die dadurch ihr Eigentum verloren haben, wurden grundsätzlich entschädigt. Verschiedene Enteignete wurden hiervon jedoch nicht umfasst bzw. erhielten nur eine minimale Entschädigung.
Als die Klage eines Herrn Broniowski beim EGMR einging, stellte der Gerichtshof fest, dass es ungefähr 80.000 weitere Betroffene gäbe, von denen ca. 200 selbst geklagt hatten. Aus diesem Grunde entschied sich der EGMR dazu, ein sogenanntes Pilotverfahren durchzuführen:
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